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Leseprobe Doppelrolle

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Doppelrolle

Sonntagmorgen, Mitte August,
Berggasthaus ›Staubern‹ (Prolog)

Als Roger Marty den Schrei hört, weiß er sofort, was passiert ist.
Er beschleunigt seine Schritte und spürt, dass sein Körper trotz der frühen Morgenstunden bereit ist, die Leistungsbereitschaft zu erhöhen. Der Alkohol des Vorabends, den er während der langen, inspirierenden und schönen Unterhaltung mit Monika konsumiert hat, scheint sich auf seinem Morgenspaziergang verflüchtigt zu haben. Wobei sich Roger durchaus bewusst ist, dass er sich bei dieser Interpretation mehr auf Illusion und Wunschdenken als auf Wissenschaft abstützt. Denn dafür war der Spaziergang zu kurz, der ihn von der Staubernkanzel, wo das Berggasthaus ›Staubern‹ steht, über den Staubernfirst bis zur Gabelung, wo der Weg hinunter ins Rheintal nach Frümsen abzweigt, führte. Und wo – für die meisten Wanderer unbekannt – auf der Nordwestseite noch die Ruine des ersten Berggasthauses ›Staubern‹ steht.

Mehr als Grundmauern, welche durch ein rostiges Blechdach geschützt werden, sind vom Wanderweg auf dem First aus nicht zu erkennen, der Weg zur Ruine ist nur für Eingeweihte zu finden. Wer diesen aber einmal gefunden hat, wird durch eine herrliche Aussicht von dieser kleinen Hochebene aus auf den Säntis, den Sämtisersee mit dem ›Plattenbödeli‹ und auf den Hohen Kasten belohnt.

Nur eine kleine, gelbe Tafel neueren Datums mit der Aufschrift ›STAUBEREN 1619 m Staubere‹ deutet noch auf die Geschichte hin, die in diesem Haufen aus Steinen, Balken und Schutt verborgen liegt.

Roger liebt solche Orte, hortet sie als sein ganz persönliches Geheimnis. Orte, die nicht allgemein bekannt sind und zu denen er sich zurückziehen kann, ohne andere Wanderer zu treffen, wo er nur mit sich alleine die Faszination und Ruhe des Alpsteins genießen kann.

Noch ist dies möglich, doch der geplante Wiederaufbau des alten Berggasthauses, das dann einen Spaziergang durch die Vergangenheit und Geschichte ermöglichen soll, wird auch diese Oase zum Verschwinden bringen. Bereits wurde von den Besitzern der heutigen ›Staubern‹ ein Gönnerverein gegründet, der dieses Projekt finanzieren soll, und auch erste Pläne eines Architekten für eine mögliche Rekonstruktion liegen vor.
Die letzten Meter zum Berggasthaus legt Roger im Laufschritt zurück, betritt dieses kurz vor halb sieben Uhr durch die Eingangstür auf der Rheintalerseite, durchquert zügigen Schrittes die Gaststube, in welcher Monika, die Servicemitarbeiterin, wie versteinert steht und ihn mit starrem Blick fixiert, und steuert direkt auf die Küche zu. Eher instinktiv als bewusst lässt er Monika einfach stehen und biegt zielstrebig beim Eingang zur Küche direkt links ab zur Treppe, die zum Keller führt.
Die Tür ist offen, im Keller brennt Licht. Roger steigt die Holztreppe hinunter – nichts zu sehen, nichts zu hören

Er biegt links ab, durchquert den ersten Raum, der mit PET-Flaschen und Lebensmittelvorräten gefüllt ist. Auch im nachfolgenden, links liegenden Raum, der schlecht beleuchtet ist und der ebenfalls als Lager für Getränke dient, ist nichts zu erkennen – außer, dass die Verbindungstür zum ›Stübli‹ offen steht. Dieser Raum steht den Gästen für Sitzungen und Seminare zur Verfügung oder einfach auch,

um nach der Polizeistunde und dem offiziellen Schluss der Bewirtung im Berggasthaus noch weiterfeiern zu können.
Aus dem Raum strömt der bissige Geruch abgestandenen Rauches – ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Gäste gestern Abend die Gelegenheit genutzt haben, dass das ›Stübli‹ vom generellen Rauchverbot im Berggasthaus ausgenommen ist. Roger Marty beugt sich vor und versucht sich einen Überblick zu verschaffen. Im Raum stehen zwei Tische, auf denen noch zahlreiche leere Flaschen und benutzte Gläser stehen, neben den Stühlen bietet eine Eckbank weitere Sitzmöglichkeiten, auf der rechten Seite stehen auf einem kleinen Buffet frische Gläser, Tassen und all das, was die Gäste hier unten noch benötigen könnten, dahinter führt eine weitere Tür ins Freie. Der Raum wird von dem durch die Fenster einfallenden Morgenlicht und von zwei gelblich leuchtenden gläsernen Lampen beleuchtet, welche an Reh- und Hirschgeweihen befestigt sind. An den Wänden hängen eingerahmte Fotos.
Was Roger in diesem Bild stört, ist aber weniger Wirtin Janine Dietsche, die wie versteinert in der Mitte des Raumes steht, als vielmehr ein eingetrockneter, rotbräunlicher Blutstreifen, der sich von der Ablagefläche der Eckbank über diese erstreckt und in einer Blutlache auf dem Boden endet.

Hörprobe Doppelrolle

 

                                                                                                                                                    facebook appenzeller